Unser Leben in Neuseeland bekommt allmählich einen Rhythmus, einen Alltag, der sich drastisch von dem Leben in Deutschland unterscheidet, in jeder Hinsicht. Wir sind jetzt wirklich angekommen, so dass wir sagen können: we live here, wenn wir gefragt werden, was wir in Neuseeland machen und wie lange wir schon hier sind. Dass man einen festen Wohnsitz hat, Nachbarn, bei denen man vorbeischaut oder die einem im Krankheitsfall helfen, Schultage und Elternabende, von Lehrern organisierte Ausflüge und bestimmte Arbeitsabläufe, das ist der größte Unterschied zu unserer Weltreise damals, als wir immerhin fast sechs Wochen hier waren. Denn egal, ob man Wochen oder sogar Monate in einem fernen Land verbringt und dort herum reist; solange man nicht an einem Ort ist und dadurch in irgendeiner Form mit der Gemeinschaft, innerhalb einer Community lebt, bleibt man Tourist, ein Schauender von außen, da kann man noch so viele Kontakte auf diesen Reisen knüpfen. (Außer auf Drehreisen, da ist es etwas anderes, da taucht man oft wirklich ein, in eine andere Welt). Dieses Gefühl wollte ich haben, dieses „Ich lebe hier-Gefühl“, auch wenn es nur für ein paar Monate ist.

Antonias College

„Responsibiltity“. Responsibility, Verantwortung, dieses Wort begegnet mir hier gerade ständig. Vor allem an den Schulen. In Helens Klasse ist es das Motto für diesen term, jede’r Schüler’in soll lernen, in den nächste Wochen Verantwortung zu übernehmen, für andere, aber vor allem für sich selbst. Das fällt den meisten Schülern aus Deutschland wohl sehr schwer, so sagte mit heute der Leiter der „international students“ von Antonias College. Die Verantwortung für seinen Alltag zu übernehmen und die Freiheit, sein Leben selbst zu gestalten, Kurse zu wählen, auf die man Lust hat und wo man sich selbst wiederfindet. Das Schulsystem in Neuseeland unterscheidet sich in jeder Hinsicht von dem in Deutschland. Es gibt nichts, was vergleichbar wäre. Mehr dazu an anderer Stelle, hier nur ein paar Beispiele: Der Elternabend von Helen. Angesetzt waren 30 Minuten. Man konnte aber vorher kommen und etwas essen. Oder plaudern. Oder auch nicht. Es kamen nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder und Geschwisterkinder. Es wurden Würstchen gegrillt, man plauderte, wir lernten andere Eltern kennen. Dann ging man in den Klassenraum, es war heiß, die große Glasschiebetür auf das weitläufige Gelände blieb geöffnet, immer wieder schauten Kinder herein, draußen wurde getobt und gelacht. Der Elternabend selbst dauerte – eine halbe Stunde. Ich fragte andere Eltern, ob das immer so sei, ja, das sei immer so. Warum das so ist? Weil es eine große Transparenz gibt. Weil die Schule jeden Tag (!) eine Mail an alle Eltern schreibt darüber, was am Tag passiert ist. Außerdem gibt es eine App, in der Helens Lehrerin Fotos, Videos und Texte vom Tag hochlädt oder Bilder, die das eigene Kind fabriziert hat und anderes. Damit man stolz ist. Damit man im Bilde ist. Das macht die Lehrerin nebenbei, bzw. dann, wenn die Kinder gerade im Pool schwimmen, was sie täglich tun, denn das Gelände hat zwei Außenpools, außerdem einen Schmetterlingsgarten, riesige Spielplätze und Außenflächen, außerdem Hühner und andere Tiere.

So fröhlich und laut es auf dem Gelände zugeht, am ersten Schultag war es ganz still. Kein Pieps. Alle saßen, sangen Maorilieder (Maori ist zweite Amtssprache in Neuseeland und hat somit auch an allen Schulen eine große Bedeutung). Die Direktorin schrieb mir am zweiten Tag abends um 21Uhr, ob Helen glücklich sei, ob es ihr gut ginge und ob sie etwas für sie tun könnten, damit sie sich gut fühle, falls das nicht der Fall sei. (Helen ist die einzige Deutsche an ihrer Schule und versucht irgendwie mit Englisch (und Maori) durchzukommen. Damit das leichter fällt, hat sie einen jungen Englischlehrer an ihrer Seite, der ihr zweimal die Woche hilft. „She copes“, meine ihre Lehrerin.

Antonias College ist viermal so groß und weitläufig wie Helens primary school. Dort gibt es keine Klassen mehr, sondern Kurse. Und alle lernen gemeinsam, ein drei-bzw. zweigliedriges System (Haupt-Realschule, Gymnasium) gibt es nicht. Angehende Anwälte lernen zusammen mit Automechanikern. Das ist das Prinzip der Egalität in Neuseeland, das bereits schon den Kindern beigebracht wird und Von Deutschland meilenweit entfernt ist: Klassenunterschiede gibt es nicht, alle sind gleich, egal woher er/sie kommt, egal, welchen Beruf man später mal ausübt oder wieviel man verdient. Es ist unwichtig. Was zählt ist, dass man das macht, wozu man sich berufen fühlt, worin man gut ist. Antonia wird demnächst einen dreitätigen Ausflug in den Regenwald machen, sie übt jetzt „Rollen“ mit dem Kajak, wird draußen schlafen und muss sich ihr Essen selber kochen. Ihr College ist eines der größten Neuseelands und als ich heute – ohne Termin – etwas klären wollte, bzw. nach einem Termin fragen, bat mich der Studienleiter in sein Büro, bot mir einen Tee an und fragte im Anschluss, ob ich Lust hätte, mal zu sehen, wo Antonia lernt. Ich bin dann, anfangs etwas peinlich berührt, mit ihm durch sämtliche Räume, Werkstätten, Labors, Kantinen, Musikräume und Tonstudios, Kajak-und Mountainbikehallen, Tanzsäle, Sporthallen, Nähwerkstätten (in der Antonia gerade arbeitete), Großküchen (in denen die Schüler kochen lernen), Forschungslabors gelaufen, und habe gestaunt. Wie überall konzentriert gearbeitet wurde, wieviele Computer es gibt (einige Schüler erstellten am PC ganze Comics und Designbücher), wie hell die Räume sind und wie weitläufig das Gelände ist.

Wenn ich morgens Antonia und Helen zur Schule gefahren habe, kommt mein Part, einer der schönsten Momente des Tages: Ich halte am Strand, der zu dem Zeitpunkt noch fast leer ist, das Meer glatt wir eine Tischdecke, denn morgens ist es absolut windstill, treffe ein paar Stand-Up Paddler und andere Jogger, eine kleine Community, die sich jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit am Strand versammelt und jogge los. Danach im Meer schwimmen und beim Yoga die ersten warmen Sonnenstrahlen begrüßen. Dann mit offenem Fenster und lauter Musik am türkisfarbenen Meer nach Hause fahren. Auf den Hügel. Und arbeiten.

Still und starr ruht der – Pazifik am Morgen
Blick vom „Centre of NZ“ auf unseren Hügel und unser Haus

Da Nelson praktischerweise einen kleinen Flughafen hat, konnte ich für einen Dreh in Wellington „kurz mal“ überfliegen, auf die Nordinsel. Ich habe am Flughafen ziemlich lange die Handgepäckkontrolle gesucht und die Gates. Bis ich feststellte, es gibt weder das eine noch das andere. Die Propellermaschine stand direkt vor der Tür und man stieg einfach – ohne Gepäckkontrolle – ein. Und konnte die Fjorde der Marlborough Sounds von oben bestaunen…

Ansonsten bleiben wir aber lieber hier auf der Erde, gucken uns den Sonnenuntergang am Hafen an oder die Kleider einer Modedesignerin oder betrachten unsere momentane Heimat von der Mitte aus, denn Nelson liegt genau dort: im geografischen „Mittelpunkt Neuseelands“.

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