Sechs Mahlzeiten im Flieger. Fünfundzwanzig Stunden in der Luft. Davon achtzehneinhalb in derselben Maschine. Zwölf Stunden Zeitverschiebung. Achtzehntausend Kilometer entfernt von der Heimat. Für vier Monate. Am anderen Ende der Welt.
Vielleicht war es der dritte SUV-Fahrer an diesem Tag, der mich bepöbelte, weil ich mit meinem Fahrrad seinem Panzerwagen nicht schnell genug Platz machte, vielleicht war es aber auch der einsetzende Presslufthammer der Baustelle direkt vor unserem Haus oder die Asphaltiermaschine ein paar Meter weiter oder vielleicht der Aufbau eines Gerüsts am Haus nebenan, das Herausschreien der Befehle, das krachende Geräusch des zu verschraubenden Metalls, vielleicht war es genau diese eine Baustelle zu viel, vielleicht war es aber auch die Nachricht, dass eine befreundete Mutter verstorben war, tot, plötzlich nicht mehr da, für ihre Tochter, drei Monate nachdem sie die Diagnose Magenkrebs erhielt, vielleicht war es der eine schlecht gelaunte Wartende an der Kasse zuviel an diesem jenem Tag oder der Blick in den farblosen Himmel, vielleicht war es alles zusammen.
An jenem Tag beschloss ich: Ich wollte es wagen, ich wollte ans andere Ende der Welt, in Natur, zu Riesenfarmen, Gletschern, Vulkanen und gewundenen Straßen ohne Autos, zu barfüßigen Menschen, die beim Sprechen immer ein bisschen so aussehen als würden sie gerade lächeln, weil sie ein e wie ein i aussprechen es deshalb wie „siven“ klingt wenn sie „seven“ sagen. Zusammen mit meinen Töchtern, Antonia (14) und Helen (9).
Zwei Wochen sind vergangen seit unserer Ankunft in Auckland. Und es fühlt sich an, als seien wir bereits Monate hier, denn wir müssen uns jeden Tag neuen Herausforderungen stellen – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Um nur einige auf die Schelle zu nennen: Autokauf in Auckland. Der Wagen war vorbestellt und anbezahlt, als wir ankamen (mit dem gesamten Gepäck) aber leider nicht fertig. Und zwar so was von nicht fertig, dass wir eine Woche hätten warten müssen, ungefähr. Vielleicht auch länger. Also boten die Autoverkäufer (Vater und Sohn, zwei Engländer), uns zunächst ihren Wagen an, mit dem sie die Kunden vom Flughafen abholen, einen Riesenvan! Fünf Meter lang. Alternativ könnten wir noch sein privates Auto haben, einen kleinen Citroen. Zwar absolut nicht das, was ich bestellt und anbezahlt hatte, aber ok, es ist ja nur ein Auto. Hauptsache, es fährt. Die Reifen mussten sich jedoch noch ausgetauscht werden und einiges andere, also fuhr man uns in eine Mall, das Gepäck ließen wir beim Händler, und hofften, dass er uns dort irgendwann wieder abholen würde. Ich nutzte die Zeit, um mir ein nagelneues neuseeländisches Handy zu kaufen, was nicht mehr gekostet hat als eine Kinokarte in Deutschland. Mit dem neuen Gefährt und ohne Papiere (die hatte mein Verkäufer gerade nicht parat, sie waren in seiner Schublade zu Hause, dafür habe ich das Auto erstmal nicht bezahlt) – mit einem unbezahlten Auto ohne Papiere fuhren wir also los.

850 Kilometer lagen vor uns. Von der Nord-auf die Südinsel. Über Serpentinen, an Vulkanen vorbei, am Lake Taupo, über die Hauptstadt Wellington und anschließend mit der Fähre durch die Fjorde der Marlboro Sounds über die windigste Meeresstraße der Welt, die Cook Passage auf die Südinsel und weiter in unseren Ort, unsere „Kleinstadt“, wie Antonia gerne sagt, nach Nelson.
Von der Fährfahrt, der Polizeikontrolle ohne Autopapiere nach falschem Abbiegen, dem Versagen der Bremse bei der steilen Rampe auf die Fähre und dem vergeblichen Versuch, alle Alarmsignale des Wagens (Piepen, Kreischen, Tröten) auszustellen, bevor man wahnsinnig wird, ein andern Mal. Jedenfalls, irgendwann erreichten wir - nach einer schließlich sehr beschaulichen, entspannten Fahrt, zum Teil Musik auf dem Ohr, auf der Fensterbank an einem der großen Glasscheiben der Fähre sitzend, während in einem Moment eine Gruppe von Delfinen aus dem Wasser sprang und wir anschließend weiter durch die fantastisch-grünen Fjordlandschaften der Marlborough Sounds fuhren, die Südinsel, fuhren über immer enger werdende Serpentinen und durch urwaldartige Landschaften und landeten schließlich tatsächlich in unserer Straße. Vom Haus nichts zu sehen. Denn das befindet sich auf einem Hügel. Wobei "Hügel" extrem untertrieben ist. Das Haus ist nur über eine Art Auffahrt zu erreichen, die am Anfang sehr eng und extrem steil ist, dann noch steiler wird und noch enger, gefolgt von einer 90Grad Kurve, aber der man das Gas durchdrücken muss, beten, dass man a) nicht rückwärts wieder runterrollt, wenn das Autos es einfach nicht schafft oder b) man gegen die Mauer donnert oder c) ohnmächtig wird vor Angst. Die ersten Tage sind Antonia und Helen jedesmal ausgestiegen und haben mir vorher zugerufen: "Du schaffst es! Ganz bestimmt!" Mittlerweile trauen sich sich, mit mir zusammen im Auto hochzufahren. Wie sagte Kate, unsere Vermieterin: "Es ist steil, dann kommt eine enge Kurve und es wird noch ein bisschen steiler, Du darfst nur nicht vom Gas gehen. Das ist alles. Wer in Neuseeland lebt, der kommt damit zurecht. Ihr sicher irgendwann auch." Davon, dass wir mit den neuseeländischen Garagen noch nicht zurechtkommen und uns einmal ausgeschlossen haben (Auto stand drin, Garagenöffner auch...) erzähle ich ein andernmal. Genauso vom Schulalltag, denn noch sind in Neuseeland Sommerferien, aber wir haben beide Schulen (Primary school und College) bereits mehrfach besucht, erkundet und die jeweiligen Direktorinnen kennengelernt. Auch dazu später mehr. Insgesamt ist alles "all good", wie der Neuseeländer sagt. Es ist tatsächlich ein bisschen wie jeden Tag Kindergeburtstag haben. Oder: Jeden Tag eine neue Praline aus der Schachtel. Es ist ein großes Glück, hier sein zu dürfen. Ein unfassbares, noch nicht ganz greifbares, großes Glück.
Unser Haus „Hausstrand“ „Hausstrand“